Aus Sagenwelt und echter Forscherarbeit auf unserer Insel Rügen
(Insel-Rundschau v. 12.12.1963) Das beliebteste Ausflugsziel Rügens stellt zweifellos die Landschaft um Stubbenkammer mit dem Hertha-See und dem Hertha-Wall dar. Der nur wenige Minuten westlich der Stubbenkammer gelegene See und Wall soll das Ziel eines gedanklichen Ausfluges sein.
Inmitten des hochragenden dichten Buchenwaldes der Stubnitz gelegen, übt der Hertha-See auf den Besucher einen eigenartig geheimnisvollen Reiz aus. Die tiefen Zweige der Buchen und sein schlammiger Untergrund verdunkeln seine Oberfläche so stark, dass er auch die Bezeichnung “Schwarzer See“ trägt und als grundlos gilt. Seine maximale Tiefe beträgt aber elf Meter.
Kleiner Schwindel für Touristen
Diese Eindrücke wirkten von jeher auf die Phantasie des Menschen ein, und es bildete sich – zum Teil auf historischer Grundlage – ein reicher Sagenschatz. Der bekannteste Komplex hat die Verehrung der Göttin Hertha zum Inhalt. Leider werden diese Sagen von manchen Reiseleitern in einer groben Entstellung und in vielen Fällen auch mit bewusster Verfälschung unseren Urlaubern und Touristen vorgetragen, so dass eine kleine Korrektur erforderlich ist.
Die Sage und die Sklaventötung
Von der Göttin Hertha heißt es, dass der benachbarte Burgwall ihr Heiligtum war. Einmal im Jahr fuhr sie auf einem mit Kühen bespannten Wagen durch das Land und segnete Fluren und Äcker mit Früchten. Sie war also eine Fruchtbarkeitsgöttin. Nach ihrer Rückkehr badete sie im Hertha-See, wobei sämtliche behilfliche Diener und Sklaven getötet wurden.
Diese Sagenbildung ist jedoch nicht ursprünglich, sondern sie wurde im Jahre 1616 durch den Gelehrten Philipp Klüver auf das bis dahin mit „Borg-See“ und „Borg-Wall“ bezeichnete Gelände übertragen. Klüver griff dabei auf ein Buch des römischen Schriftstellers Tacitus zurück, das dieser im Jahre 96 n. Chr. schrieb. Dabei berichtete Tacitus von der Verehrung einer Göttin Nerthus – verballhornt zu Hertha – bei den Germanen auf einer Insel im Ozean.
Wenn diese Insel bis heute zwar nicht lokalisiert ist, so war es Rügen mit Sicherheit nicht. Damit hat der Hertha-Sagenkomplex keinen realen Hintergrund und sollte entsprechend den Besuchern dargestellt werden.
Das Erzählen dieser Sage setzte sich auch erst seit 1830 durch, als der Fremdenverkehr nach Rügen zunahm und man sie als Werbemittel benötigte. Zu dieser Zeit wurden auch erst die benachbarten sogenannten Opfersteine entdeckt und in die Hertha-Sage einbezogen. Man sprach von einer Menschenopferung für die Göttin Hertha an dieser Stelle, wobei das Blut des Geopferten durch eine Rinne in einen schalenförmigen Opferstein geflossen sei. Der zweite Stein, der sogenannte Sagenstein, mit den Eindrücken eines großen Menschen und eines kleinen Kinderfußes soll Zeuge einer sogenannten Steinprobe gewesen sein. Auch hier spielte eine mehr oder weniger bewusste Irreführung des Touristen hinein.
Blutspuren am Mahlsteintrog
Der schalenförmige Opferstein ist nämlich ein bronzezeitlicher Mahlstein und nie als Opferstein gedacht gewesen. Der damalige Museumsdirektor Rudolf Baier kannte außerdem einen Mann aus Nipmerow, der diesen Trog um 1850 an die Seite des großen „Opfersteines“ gelegt hatte. In späterer Zeit soll man den Besuchern durch Bemalen mit roter Farbe Blutreste vorgetäuscht haben.
Das Rätsel um Hertha-See und –Burgwall lockte auch die Archäologen, und bereits 1886 wurde im Burgwall die erste Ausgrabung durchgeführt. Sie ergab, dass der Burgwall in slawischer Zeit errichtet und den Burgwällen von Arkona, Garz und Bergen gleichzustellen ist.
Burgwall im 10. Jahrhundert
In den Jahren nach 1939 setzte dann unter Leitung von Professor Eggers, Stettin, eine erneute Untersuchung ein. Zunächst stellte man eine jungsteinzeitliche Siedlung fest, auf der die Slawen im 10. Jahrhundert den Burgwall errichteten. Der heutige Aufgang wurde als ursprüngliches Tor nachgewiesen. Zugang und Innenfläche waren ausgepflastert. Der Nachweis, dass die Burganlage in die Slawische Zeit gehört, hier gefundene slawische Scherben befinden sich im Museum in Szczecin, führt uns zu einer genaueren und wahrheitsgetreueren Deutung.
Nach Auswertung verschiedener Urkunden des frühen Mittelalters ist man nämlich geneigt, in dem Burgwall das Heiligtum der slawischen Gottheit Tjarnogloss, das heißt Schwarzkopf, zu lokalisieren. Er war ein slawischer Siegesgott und trug als Kennzeichen einen silbernen Knebelbart. Die Zerstörung des Heiligtums durch die Dänen erfolgte, vermutlich durch die versteckte Lage in der Stubnitz begünstigt, erst drei Jahre nach der Einnahme der „Jaromarsburg“ bei Arkona im Jahre 1171.
Der Wassergeist Nickel
Die Annahme der Verehrung einer slawischen Gottheit vom 10. bis zum 12. Jahrhundert verstärkten einige ältere Sagen, die bereits vor der Lokalisierung der Hertha-Sagen hier bekannt waren. So berichtete man von der Verehrung eines alten Heidengottes, dem Menschenopfer dargebracht wurden, und von einem Wassergeist Nickel, der eine Bewirtschaftung des Sees nicht dulden wollte.
So bleibt nach Trennung des Unwahren vom Wahren noch eine Fülle unlösbarer Probleme übrig, wobei die Bedeutung des Hertha-Sees und des Hertha-Burgwalles als Natur- und Geschichtsdenkmal nicht geschmälert wird.
Eine der vordringlichsten Aufgaben für die künftige Bädersaison wäre nun, in Zusammenarbeit mit den kulturellen Institutionen des Kreises eine wahrheitsgetreue Beschilderung dieser Objekte vorzunehmen. (Dies ist in den Folgejahren geschehen.)